Alles, was Wissen schafft

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Der Podcast der Landesvertretung Schleswig-Holstein

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Music.

Heike Muß (HM): Hallo und herzlich willkommen zu Alles, was Wissenschaft dem Podcast der Landesvertretung Schleswig-Holstein in Berlin.

Heike Muß (HM): Mein Name ist Heike Muß, und bei mir zu Gast ist der wichtigste Vertreter und Begründer der visual history im deutschsprachigen Raum. Visual history also die historische Bildforschung untersucht, wie Bilder Realität nicht nur abbilden, sondern auch interpretieren, was wahr und was inszeniert ist, und wie die Bilder in unser Gedächtnis gelangen und unser Geschichtsbild formen.

Heike Muß (HM): Der Pionier dieser Disziplin sitzt jetzt vor mir, und ich freue mich sehr, dass er aus Flensburg zu uns nach Berlin gekommen ist. Herzlich willkommen Prof. Dr. Gerhard Paul

Gerhard Paul (GP): Ich grüße Sie.

HM: Bevor wir über ihr neues Buch Bilder einer Diktatur zur visual history des Dritten Reiches sprechen, möchte ich Sie kurz vorstellen. Sie wurden 1951 im hessischen Biedenkopf an der Lahn geboren, sind Historiker und Sozialwissenschaftler. Und hatten bis zu ihrer Emeritierung 2016 eine Professur für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg inne. Einige ihrer Veröffentlichungen sind mittlerweile zu Standardwerken der Bildgeschichte geworden, darunter das Jahrhundert der Bilder und das visuelle Zeitalter Punkt und Pixel.

HM: Besonders intensiv haben sie sich mit dem Nationalsozialismus und mit Bildern von Krieg und Terror, man kann auch sagen mit Bilderkriegen befasst. Diese Themen, das sagen sie selbst, ziehen sich wie ein roter Faden durch  Ihr Leben und werden auch gleich unser gemeinsames Gespräch leiten. Bevor sie Hochschullehrer wurden haben sie viele Jahre als Autor und Dokumentarfilmer für das Fernsehen gearbeitet.

HM: Herr Professor Paul, in einem Interview haben sie neulich gesagt, für mich sind Bilder genauso konstruiert wie ein Roman. Aas meinen Sie damit?

GP: Bilder sind, sie haben darauf hingewiesen, sind keine Spiegel von Wirklichkeit, in meinem Fall historischer Wirklichkeit, so sind sie von Historikern meiner Generation vor mir über viele Generationen gesehen und gedeutet worden. Ein Bild bricht immer Realität. Das hängt mit den unterschiedlichsten Dingen zusammen, das hängt mit der Passtiefe des Künstlers, des bildenden Künstlers, des Fotografen zusammen, das hängt mit dem Stiel zusammen, in dem ein Bild komponiert wird, ein Bild wie gesagt. Ein Bild wird komponiert. Ein Bild ist nie ein spontaner Ausdruck von irgendwas, selbst bei dem Fotografen, der einen Schnappschuss macht, der hat eine bestimmte Vorstellung von Bild im Kopf. Durch diese Vorstellung wird Realität bereits gebrochen. Am deutlichsten ist das in der modernen Bildgeschichte, wo Bilder regelrecht inszeniert werden für die mediale Öffentlichkeit. Da steckt ungeheuer viel Power dahinter, viel viel Geld. Man will eine bestimmte Wirkung erzielen, und man experimentiert mit Bildern, um diese Wirkung zu bewerkstelligen also. Bilder von daher sind ähnlich konstruiert wie Bilder die Bilder der bildenden Kunst, die

GP: der Maler an seiner Staffelei komponiert bzw tatsächlich wie der Roman, der von einem Schriftsteller

GP: geschrieben wird.

(HM): Jetzt kommen wir doch mal zu ihrem Buch Bilder einer Diktatur. Sie haben für dieses Buch exemplarisch 42 Bilder der NS-Zeit ausgewählt und erzählen ihre Entstehung und Wirkungsgeschichte. Wie haben Sie denn die Bilder ausgesucht?

(GP): ich bekenne mich dazu, es ist eine subjektive Auswahl von starken Bildern, die Geschichte gemacht haben, bzw von Bildern, die für mich in irgendeiner Weise bedeutsam waren und selbst wenn ich den Bildlegenden aufgesessen bin.

(HM): Dann sprechen wir doch jetzt mal über die Bilder konkret, nicht über alle aber über ein paar ausgewählte.

(HM): Wir beginnen mit dem allerersten Bild im Buch. Das Kapitel trägt den Titel Menora und Hakenkreuz, Privatfoto 1932.

(HM): Was sehen wir auf dem Bild Herr Paul?

(GP): Wir sehen auf dem Bild eine Fensterbank auf der ein Menora-Leuchter steht. Etwas verdeckt durch die Kerze ist ein kleiner Davidstern zu sehen, auf der linken Seite angeschnitten eine Gardine,am gegenüberliegenden Haus, einem großen mächtigen Haus, eine Hakenkreuzfahne.

(GP): Wenn man die Geschichte dieses Bildes genauer rekonstruiert, dann stellt man fest, es ist die Aufnahme aus der Wohnung des Rabbiners, aufgenommen von der Rabbinerfrau Rachel Posener, auf das gegenüber liegende Haus der NSDAP Kreisleitung Kiel, aus der diese Hakenkreuzfahne hängt, aufgenommen zum Jahresende 1932, etwa 3-4 Wochen vor der Machtergreifung der Nazis.

(HM): Wie sind Sie denn auf die Fotografie gestoßen?

(GP): Ich bin aufmerksam geworden auf diese Fotografie durch einen Journalisten, der mir dieses, wie ich damals sofort erkannt habe, beeindruckende Bild präsentiert hat und der mir auch einen Zugang zu der Familie des Rabbiners,

den Nachfahren des Rabbiners in Haifa, vermittelt hat. Ich bin dann nach Haifa gefahren und habe versucht, mehr über dieses Bild herauszubekommen. Der Rabbiner ist mit seiner Frau und seinen, drei Kindern waren es, glaube ich, im Juni 1933 von Kiel über die Niederlande nach Palästina geflohen, emigriert. Und er hat sowohl das Bild als auch die Menora, diesen Leuchter mitgenommen. Ich habe dann die Familie, die Nachfahren in Haifa aufgesucht. Dieses Bild hing groß vergrößert in der Wohnung. Die Familie hat mir dann auch ein kleines Original in Postkartengröße gezeigt, und auf die Rückseite hatte die Großmutter der Familie, die Rabbinerfrau Rachel Posener einen Vierzeiler geschrieben, auf dem es heißt: Juda verrecke, die Fahne spricht, Juda lebt ewig, erwidert das Licht.

den Nachfahren des Rabbiners in Haifa, vermittelt hat. Ich bin dann nach Haifa gefahren und habe versucht, mehr über dieses Bild herauszubekommen. Der Rabbiner ist mit seiner Frau und seinen, drei Kindern waren es, glaube ich, im Juni 1933 von Kiel über die Niederlande nach Palästina geflohen, emigriert. Und er hat sowohl das Bild als auch die Menora, diesen Leuchter mitgenommen. Ich habe dann die Familie, die Nachfahren in Haifa aufgesucht. Dieses Bild hing groß vergrößert in der Wohnung. Die Familie hat mir dann auch ein kleines Original in Postkartengröße gezeigt, und auf die Rückseite hatte die Großmutter der Familie, die Rabbinerfrau Rachel Posener einen Vierzeiler geschrieben, auf dem es heißt: Damit wollte man deutlich machen, dass nicht das Hakenkreuz langfristig obsiegen werde, sondern das jüdische Leben sich von dem von der nationalsozialistischen Bedrohung nicht einschüchtern lasse.

(HM): Es gibt ja auch eine Geschichte zur Menora, dem Kerzenleuchter, den man auf dem Bild sieht.

(GP): Ja, dieser Kerzenleuchter ist benutzt worden von der Familie weiterhin in der Emigration, bzw in der neuen Heimat in Palästina. Der ist dann vor einigen Jahren dem Jüdischen Museum Yad Vashem in Jerusalem übergeben worden, aber immer mit der Maßgabe, dass man einmal im Jahr diesen Leuchter wieder ausleihen kann, um mit ihm in der eigenen Familie das Lichterfest zu zelebrieren. Und ich war völlig überrascht, als ich 1999 in Haifa ein Buch, nein in Tel Aviv war es, ein Buch vorgestellt habe. Da kam einer der Nachfahren dieser Rabbinerfamilie mit einem Plastikbeutel und zog aus diesem Plastikbeutel diese original Menora heraus und stellte sie vor mir auf dem Tisch.

(HM): Wenn wir dem Bild heute begegnen, und das geschieht in der Tat sehr oft, spielt die Entstehungsgeschichte des Bildes ja eigentlich kaum noch eine Rolle. Es ist ein echtes Passepartout geworden. Wann immer eine knappe visuelle Darstellung von Judentum und Nationalsozialismus gebraucht wird, egal in welchem Kontext, Buchausstellung oder Film, dieses Bild passt. Wie wurde es eigentlich so populär?

(GP): Dieses Bild tauchte erstmals in den 70er Jahren in Kiel auf ohne präzise Bild Legende. Man wusste, dass es irgendwas mit der Rabbinerfamilie zu tun hat, mehr aber auch nicht. Es tauchte dann wieder auf im Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz mit einer relativ allgemeinen Beschreibung. Das ist verständlich, Bildagenturen müssen Bilder verkaufen, Bilder sind Waren und je allgemeiner eine Bildlegende ist, umso besser lässt sich ein Bild verkaufen. Also das führte dazu, dass man dieses Bild nicht präzise kontextualisiert hat, was das Jahresende 1932 betraf. Daher konnte es mal der Reichskristallnacht in Anführungszeichen 1938 zugeordnet werden, mal dem Holocaust etc oder ganz allgemein dem jüdischen Leben in aller Welt, das immer wieder aufs Neue bedroht ist. Das Bild machte also nicht nur rein physisch materiell eine Migrationsgeschichte durch, indem es von Kiel von Deutschland über die Niederlande nach Palästina ging, sondern löste sich im Grunde von seiner ursprünglichen Bedeutung, von seinem Entstehungskontext und erzählte plötzlich immer wieder andere Geschichten.

(HM): Auf jeden Fall ein starkes Bild mit einem starken Motiv

(GP): Das sehe ich auch so.

(HM): Auf dem nächsten Bild lacht uns die perfekte Idylle einer Bauernstube an, bzw eigentlich schauen wir dem Führer direkt in die Augen. Das Kapitel trägt den Titel Herrgottswinkel Pressefoto 1938. Am runden Tisch in der guten Stube sitzt die bäuerliche Familie um den großen Suppentopf herum: Vater, Mutter und sechs Kinder. Und über der Eckbank im sogenannten Herrgottswinkel steht ein Bild Adolf Hitlers, umrahmt von einer Vase und einem kleinen Blumenstrauß.  Lieber Herr Paul, meinen Sie denn, dass alle unsere Zuhörerinnen und Zuhörer wissen, was ein Herrgottswinkel ist?

(GP): Ja, wahrscheinlich nicht in Schleswig-Holstein

(HM): vielleicht auch nicht in Berlin, und in Bonn, da habe ich schon mal rum gefragt, auch nicht.

(GP): Der Herrgottswinkel ist im katholischen Raum ausgeprägt gewesen. Das ist also eine Ecke in der häuslichen Stube im Wohnzimmer, wo ein Andachtsbild oder ein Kruzifix hing, das die bäuerliche Familie beim Essen angeschaut hat und das wird jetzt von den Nazis genutzt. Also das Kruzifix oder das Marienbild oder ein Jesusbild hing da, das durch ein Bild des Führers, beide sind ja religiöse Bewegungen, also der Nationalsozialismus hat ja durchaus etwas religiöses. Und auf diesem Bild ist ja noch deutlich mehr zu sehen. Es ist nicht nur das Führerbild zu sehen. Über dem Führerbild ist ein Wochenspruch der NSDAP zu sehen, der ausgetauscht werden konnte. Die Zeitungen haben den produziert. Man konnte den ausschneiden, dann konnte man ihn in einen Rahmen hineinstecken. Unterhalb dieses Wochenspruchs sieht man, wenn man genau hinschaut, eine Lampe mit einer Glühbirne. Und praktisch senkrecht darüber, das Führerbild. Eine Schüssel, aus der diese Familie isst, das ist ja ein ungeheuer ein hochgradig symbolisches Bild. Wir schreiben das Jahr 1938, der Nationalsozialismus ist auf dem ersten Höhepunkt seiner Macht, die Arbeitslosigkeit ist weitestgehend beseitigt, der Nationalsozialismus spendet den Armen im Grunde Brot, ermöglich ihnen wieder, wie er es selber genannt hat, ein Leben in Würde. Ich bin über dieses Bild gestolpert. Ich kannte ein ähnliches Bild aus meiner Verwandtschaft. Meine Großeltern im Sudetenland, streng katholisch, haben ähnlich ein Hitlerbild in ihrer Wohnstube gehabt, wo früher das

(GP): Christuskreuz hing. Und ersetzten es, wie gesagt, durch das Führerbild und vereinigen sich immer unter der Fotografie zu Weihnachten unter diesem Bild. Ich fand das erstmal interessant, weil sie immer erzählt haben, wir hatten eigentlich mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun. Das Bild sprach etwas ganz anderes. Das war, wenn Sie so wollen, der persönliche Bezug zu dem Bild. Ich habe mir das Bild genauer angeschaut und bin dann irritiert gewesen. Was wir sehen, ist ein hochgradig inszeniertes Bild vom Scherl-Verlag in Berlin. Der Auftrag bedeutete, deutlich zu machen, wie der Hitlerkult in den entferntesten Gauen des Deutschen Reiches auf dem ersten Höhepunkt der Machtentfaltung des Nationalsozialismus angekommen ist. Und das ist dem Fotografen hervorragend gelungen.

(HM): Wie hat sich denn dieser Kult entwickelt?

(GP): Dieser Kult ist das Produkt im Grunde eines 10-jährigen Prozesses. Hitler befand sich ja 1922, 23, illegal in Deutschland. Er hatte kein Aufenthaltsrecht. Von Hitler existiert auch keine Fotografie. Durch Zufall ist es einem bekannten Berliner Pressefotografen gelungen, eine Aufnahme 1923 von ihm zu schießen und diese auch zu veröffentlichen. Es ist das erste Hitlerbild, das es überhaupt gegeben hat, und dann hat Hitler was ganz Interessantes gemacht. Er war ein durchaus schon 1923, durch den Marsch auf die Feldherrnhalle, ein durchaus bekannter Mann, aber keiner wusste, wie er aussah. Und hat sich überlegt, bevor andere ein Bild von mir erzeugen, produziere ich die Bilder selbst. Also er macht so etwas, was es vielleicht bei Kaiser-Wilhelm gegeben hat, in Ansätzen, aber um Himmels Willen nicht bei den beiden demokratisch gewählten Präsidenten der Weimarer Republik, also weder bei Ebert noch bei Hindenburg. Er entwickelt sowas wie ein Bildmanagement. Also er nimmt die Produktion seiner Bilder in die eigene Hand. Er experimentiert mit seinem Leibfotografen Heinrich Hoffmann in München im Studio Posen, wie er am besten ankommt. Er er probiert verschiedene Kleidungsstile aus, er befragt befreundete Damen, wie er am besten auf die Damenwelt wirkt. Jetzt ändert sich dieses Hitlerbild. Am Anfang ist es noch aggressiv expressiv bis 1930. 1930 ringt die NSDAP bereits um den stärksten Platz im Deutschen Reichstag. Dazu müssen bürgerliche Schichten erschlossen werden, dieses aggressiv Expressive ist nicht mehr opportun. Er experimentiert also nur mit staatsmännischen Posen. Und das entwickelt sich bis weit in die 30er Jahre nach der Machtergreifung hinein. Also wir sehen ihn in den 20er Jahren noch in Parteiuniform. Teilweise mit Lederhose. Das sieht völlig lächerlich aus, das sieht er auch selbst. Die Parteiuniform kommt weg. Man sieht ihn nachher im modernen Zweireiher als seriösen Staatspolitiker und dann mit Kriegsbeginn wieder in der Uniform des Feldherrn, der jetzt diesen großen Krieg angezettelt hat. Relativ schnell lässt allerdings dieses Bild des siegreichen Heerführers, in dem er sich gerne hat porträtieren lassen, nicht nur fotografieren, sondern auch porträtieren lassen, das bricht relativ schnell zusammen mit den ersten Rückschlägen, in der Sowjetunion, als die Wehrmacht, also vor Moskau zum Stehen kommt. Und ab dem Zeitpunkt wird er immer weniger in der Öffentlichkeit überhaupt gesehen. Der illustrierte Beobachter, das war so die illustrierte Zeitung der Nationalsozialisten, die hat eben, ich sage mal Hitler 38 noch 40 mal auf dem Cover gehabt. Und 1943 vielleicht noch fünf Mal und 1944 oder 45 noch einmal. Das nimmt rapide ab und nachher gibt es auch keine Filmaufnahmen mehr von ihm. Er war ja schwer krank, am Ende des Krieges. Es gibt nur mehr kontrollierbare Fotografien, aber nicht Filme, die sein chronisches Zittern eventuell hätten deutlich machen können. Er war also schon jemand, der dieses sein Bild in der Öffentlichkeit präzise geplant hat. Wenn man das vergleicht mit den amerikanischen Präsidenten, die dieses Bildmanagement in den 20er und 30er Jahren schon sehr viel weiter entwickelt haben, knüpft es eher an amerikanische Präsidentschaftswahlstrategien an, denn an demokratische Strategien, die seine Vorgänger praktiziert haben.

(HM): Wir sprechen als nächstes über ein ganz anderes Bild, nämlich über Emil Noldes Gemälde Hohe Wogen von 1940. Herr Professor Paul, das Bild, das sie in ihrem Buch aufgenommen haben, hätte sich Kanzlerin Angela Merkel gerne in ihr Büro gehängt. Weil ihr aber der Museumsberg Flensburg das Bild nicht ausleihen wollte, entschied sie sich für ein anderes Meeresbild, für Noldes Gemälde Brecher von 1936. Dieses Bild hing im Büro der Kanzlerin bis zum Frühjahr 2019. Dann wurde es abgehängt, um es in der Ausstellung Emil Nolde eine deutsche Legende im Hamburger Bahnhof in Berlin zu zeigen. Diese wirklich sehr beeindruckende Ausstellung, an der unter anderem auch der jetzige Direktor der Nolde Stiftung in Seebüll, Christian Ring mitgewirkt hat, diese Ausstellung hat erstmals einer großen Öffentlichkeit gezeigt, wie es Nolde gelungen ist, diese Legende des verfolgten Künstlers zu stricken. Vielleicht können Sie uns das mal nachzeichnen und erläutern, lieber Herr Paul.

(GP): Ich habe dieses Bild unter anderem deshalb ausgewählt, nicht nur, weil ich finde, dass es künstlerisch ein tolles Bild ist, sondern auch weil die Wogen für mich stellvertretend für die Rezeption von Noldes Gemälde stehen. In den 20er Jahren völlig verkannt, so hat er sich selber auch gesehen, wird er 1933 fast in den Status eines Staatskünstler erhoben. …………… lässt seine Dienstvilla mit Nolde Bildern ausstatten, wird gesammelt von führenden Nazis, hat Fürsprecher bei Himmler, bei Baldur von Schirach, dem Reichsjugendführer, gerät dann aber ab 1937 in diese, in die Verfemung der sogenannten entarteten Kunst, wie die Nazis das genannt haben. Dieses Expressive passte nicht mehr in ihren naturalistischen Stil. In etwa tausend Bilder von Nolde wurden aus den deutschen Museen entfernt und ins Ausland verkauft. Die Nazis waren nicht so blöd, dass sie die verbrannt haben. Vieles ist verkauft worden. Nolde wird dann 1941 aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, erhält Berufsverbot aber Klammer auf kein Malverbot Klammer zu. Und ihm gelingt es, das ist jetzt die Wellenbewegung wieder nach oben, nach 1945 sich oder, es beginnt im Grunde schon während der Kriegszeit, wo er versucht, eine eigene Reputation aufzubauen. Ich glaube jemand hat auch mal von einem Reputationskünstler gesprochen, was es sehr genau trifft. Also Nolte weiß, dass nach einem Krieg, nach dem Ende dieses Regimes seine Bilder gegebenenfalls einen hohen Stellenwert haben, aber nicht mit seiner NS-Vergangenheit. Also schreibt er seine Tagebücher um, interpretiert sein Malwerk um, und ihm gelingt es tatsächlich, auf der ersten oder zweiten documenta in Kassel in den 50er Jahren gleich mit einem, legen Sie mich nicht fest, einem ganzen Dutzend Bilder vertreten zu sein. Und es wahr, führende Kunsthistoriker, der Leiter der Nationalgalerie in Berlin, der Chef der documenta in Kassel, dann natürlich die Direktorin der Seebüll-Stiftung, im Grunde alle vor Christian Ring sitzen dieser Selbststilisierung Noldes bedrohten Künstler auf. Vielleicht muss man auch noch den Namen Siegfried Lenz erwähnen und die Deutschstunde, wo er ja im Grunde als verfolgter Maler dargestellt ist. Das ist eine Auf- und Abbewegung der Rezeption von Nolde. Im Grunde zum Staatskünstler ist er 33 geworden, zum Staatskünstler wird er wieder in den 70er Jahren als - Angela Merkel war ja nicht die erste, Helmut Schmidt war der erste, der Nolde wieder ins Kanzleramt holte. Daran knüpft letztlich Angela Merkel heute an oder hat angeknüpft. Durch die Ausstellung ist tatsächlich dieser Mythos von Nolde als verfolgter Künstler, verfemter Künstler vollständig zerstört worden. Auch dieser Mythos der sogenannten ungemalten Bilder, das waren Bilder, die Nolde in den 40er Jahren zur Kriegszeit gemalt hat, die er so interpretiert hat, das sind die Bilder, die er eigentlich nicht malen durfte, aber er hatte kein Malverbot. Er hatte Berufsverbot. Berufsverbot bedeutet was völlig anderes. Er durfte die Bilder nicht öffentlich handeln, er durfte die Bilder nicht ausstellen. Er durfte durchaus weiter malen, aber er stellte diese gemalten Bilder als Widerstandshandeln dar, auch das wird in dieser Ausstellung die wir hier vor ein oder zwei Jahren in Berlin gesehen haben, wird vollständig zerstört und das führt letztendlich dazu, dass Angela Merkel unter dem Druck, unter dem Eindruck, vielleicht ist es so besser, der Öffentlichkeit dieses Bild nicht in die Ausstellung gegeben hat, was die Ausstellungsmacher ursprünglich beabsichtigt hatten, es aber auch aus dem Kanzleramt verbannt hat. Und darüber ist dann eine Diskussion entbrannt, ob das richtig ist. Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien hat ja ein Nolde Bild aufgestellt oder aufhängen lassen mit der Begründung, dass das ein künstlerisch starkes Bild ist und dass diese künstlerisch starken Bilder eventuell auch von Menschen produziert werden, die keine, also menschlich keine Großen sind. Und das wird man von Nolde tatsächlich sagen müssen. Nolde ist ein Opportunist gewesen. Nolde ist jemand gewesen, der seine Biografie uminterpretiert hat. Ich glaube, Frau Prien kann das machen. Ich weiß nicht, ob Angela Merkel, ob das so geschickt wäre, vor allen Dingen nach der ja Entmythologisierung Noldes ein Bild eines, in dem Sinne NS-Künstlers weiterhin in ihrem Büro hängen zu haben. Das hat ja viele Kommentatoren und Feuilletonisten gegeben, die gesagt haben, Nolde repräsentiert die Gebrochenheit der deutschen Geschichte. Man kann das durchaus tun, man kann auch ausländischen Staatsgästen das deutlich machen. Ich glaube, das zu vermitteln, einem ausländischen Staatsgast, meinetwegen einem israelischen Minister oder Ministerpräsidenten das klarzumachen, ist ungeheuer schwierig. Also ich bin der Meinung, dass Bilder von Künstlern des NS nicht ins Kanzleramt gehören. Vielleicht in das Dienstzimmer unserer Bildungsministerin, in jedem Fall in die deutschen Museen, wo sie jetzt auch anders kontextualisiert werden und ich sie selber anders sehe. Also ich bin, obwohl ich diese ganze Geschichte wusste, ich bin jedes Jahr fasziniert nach Seebüll gefahren in dieses Noldemuseum. Und ich habe jedes Mal neue Bilder entdeckt. Diese diese Unbekümmertheit, mit der ich das getan habe, die habe ich heute nicht mehr. Wenn ich heute Nold-Bilder sehe, habe ich immer ein eigenartiges Gefühl und kann ihn nicht mehr so sehen, wie ich ihn über Jahrzehnte gesehen habe. Also hat diese Auswahl sehr stark auch was mit mir selbst zu.

(HM): Unser nächstes Bild ist wieder eine Fotografie, entstanden ist sie am 3. August 1941 und was wir sehen ist ein Dutzend junger Männer. Blendend gelaunt und auffallend gut gekleidet. Die Gruppe verlässt gerade den Hamburger Bahnhof, scheint also gerade mit dem Zug angereist zu sein. Lieber Herr Paul, was spielt sich da tatsächlich ab, wer sind diese Leute?

(GP): Also das ist eine der großartigsten Fotografien, die ich kenne. Ich bin ja groß geworden in einer Familie, wo es immer hieß, wir hatten keine andere Möglichkeit als Hitler zu folgen. Der Widerstand, auf Widerstand stand Todesstrafe, und zwischen Folgen und Widerstand gab es praktisch keinen Bereich mehr. Und hier sehen wir, dass es tatsächlich autonome Handlungsbereiche gab, widerständiges Verhalten. Wir sehen junge Leute, sie haben das richtig beschrieben, die aus dem Bahnhof lachend herauskommen, sehr elegant gekleidet. Man muss sich überlegen, am 3. August 1941. Das sind wenige Wochen, sechs Wochen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Der Krieg ist in vollem Gange, einige Jahre später wird Hamburg in Schutt und Asche liegen. Und diese jungen Leute ziehen aus dem Bahnhof heraus und lassen sich dabei fotografieren. Passiert ist folgendes: Es handelt sich um Anhänger der Hamburger Swing Jugend. Oder der Hot Jugend, die die englische amerikanische Musik insbesondere Swingmusik mochten, Konzerte besucht haben, amerikanische Filme, in denen diese Musik zu hören war oder deutsche Propagandafilme, die diese Musik zitiert hat. Und die Feste gefeiert haben, Swingfeste etc. Und die sich nicht dieser kulturellen Bevormundung der Nationalsozialisten angeschlossen haben. Und sie inszenieren jetzt etwas, was es so in dieser Form eigentlich erst 30 Jahre später gibt. Was wir sehen, wir sehen letztlich ein Happening auf offener Straße ein kollektives Happening, mit Spaß verbunden. Also Widerstand kann Spaß machen, das praktizieren sie hier. Sie haben folgendes getan. Sie sind vom Hamburger Hauptbahnhof kurze Zeit vorher, einer von ihnen, mit einem Freund nach Hamburg-Harburg gefahren. Sie haben den Zug von Berlin nach Paris bestiegen, der dann anschließend wieder im Hamburg Hauptbahnhof hielt, auf dem Hauptbahnhof standen 50 bis 60 ihre Anhänger, gut gekleidet in hauptsächlich anglophilem Stil, Jungen und Mädchen, alle im Alter zwischen, ich sage mal 15 und 21, 22 Jahre, und jetzt kommt einer, der sich als Reichsstatistenführer inszeniert. Das hat es natürlich nicht gegeben, das ist eine Fantasiebezeichnung, aber es hat den Reichsjägermeister gegeben, Heinrich Göring, Reichsjägermeister, warum sollte es also auch nicht den Reichsstatistenführer geben. Und dieser selbsternannte Reichsstatistenführer entsteigt dem Zug und wird auf dem Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofes mit Heil Hotler, Heil Hotler empfangen, die grüßen auch in Art des Hitlergrußes, heben den Arm, aber rufen nicht Hitler sondern rufen Heil Hotler, machen sich also im Grunde lustig über diesen. Ziehen anschließend mit ihrem gesamten Anhang, in einer Kutsche vom Hamburger Hauptbahnhof durch die Mönckebergstraße zum Alsterpavillon. Fotografieren sich bei diesem, bei dieser Prozession, es ist ein Sonntag, ein Sonntagnachmittag bei dieser Prozession, durch die Hamburger Innenstadt fotografieren sie sich gegenseitig. Am Alsterpavillon löst sich alles auf, weil man befürchtet hat, die Gestapo greift ein. Die Gestapo ist sowas von überrand worden von diesem Happening, dass sie erst 14 Tage später eingegriffen hat und dann die beiden Anführer und etwa 300 Jugendliche aus dieser Hamburger Swing-Jugend festgenommen hat. Für kurze Zeit nach Fuhlsbüttel ins Gefängnis geschickt hat, die Rädelsführer teilweise in Jugend KZ oder zur Wehrmacht hat einziehen lassen. Die beiden Hauptakteure dieser Aktion sind kurze Zeit später wieder frei gekommen, dann anschließend zur Wehrmacht eingezogen und nach kurzer Zeit im Krieg gefallen.

(HM): Es gibt eine ganz schöne Website, die kennen Sie vielleicht: Hamburger Geschichtsbuch. Und dort finden sich einige Originaldokumente zur Swing Jugend, und ich habe da einen ganz schönen Text gefunden und zwar ist das aus einem Ausschnitt, aus dem Bericht des Kriminalrat Hinze, den er am 2. Februar 1943 vor der Geheimen Staatspolizei und der Arbeitsgemeinschaft für Jugenderziehung gegeben hat. Ich lese mal vor. „Als das Tanzverbot ausgesprochen wurde, kamen die sogenannten Hausfeste auf, bei denen es nun zu ungehemmten sittlichen Exzessen kam, wozu man nach reichlichem Alkoholgenuss zu zweien, dreien und mehreren gleichzeitig oftmals in die Ehebetten der abwesenden Eltern ging, wobei die beiden Partner durchaus nicht immer verschiedengeschlechtlich zu sein brauchten. Im Sommer traf man sich dann in der Badeanstalt Kaiser-Friedrich-Ufer oder an der Kellinghusenstraße. Oder aber man verreiste scharenweise nach Timmendorfer Strand, wo man sich recht auffällig benahm. Um seine anglophile Einstellung zu betonen, steckte man sich englische oder auch amerikanische Fähnchen an, damit die Freiheitsliebe auch außer langem Jackett und ebenso langen Haaren (der Rekord bei den Jungen war 27 cm Länge), hohem Kragen, weiten Hosen, Kreppsohlen-Schuhen sowie Regenschirm noch anders betont würde. Im Timmendorfer Strand tat einer der Swing Boys ein übriges und bemalte sämtliche Bänke der Kurpromenade mit dem geistvollen heilt Hitler.

(GP): Wunderbares Zitat. Schade kannte ich vorher nicht. Hätte gut in das Buch gepasst. Also, wunderschön, Haare länger mit 27, also ich als Jugendlicher habe ich mich überhaupt nicht getraut.

(HM): Um über das nächste Bild zu sprechen, das den Titel Minenprobe oder Frau im Fluss, Knipserfoto 1942 trägt, lese ich die Bildbeschreibung aus ihrem Buch vor: Eine friedliche geradezu idyllische Situation mitten im Krieg. Eine junge Frau watet ruhig durch seichtes Wasser. Ob es sich um einen See oder ein Fluss handelt, sehen wir nicht. Eine Strömung oder ein Kehrwasser ist nicht erkennbar. Die Beine der Frau wirbeln das Wasser hinter ihr leicht auf. Die Wasseroberfläche ist daher etwas gekräuselt. Die Frau bewegt sich von links nach rechts und damit in Leserichtung durch das Bild. In wenigen Schritten wird sie das Ufer erreicht haben, von dem nur ein flacher, von Reifenspuren durchquerter Uferstreifen sowie die Schatten eines Baumes und eines Strauches zu sehen sind. Die Frau trägt ein Kopftuch, das hinter dem Kopf verknotet ist. Ihren Rock hat sie gerafft, damit er nicht nass wird. Die Sonne scheint. Der Körper der Frau wirft einen langen Schatten auf die ansonsten glatte Wasserfläche. Vermutlich ist das Bild am späten Nachmittag aufgenommen worden. Der Fotograf, von dem wir nur wissen, dass er ein deutscher Soldat ist und das Foto während der sogenannten Sommeroffensive der Wehrmacht im Juni Juli 1942 in der östlichen Ukraine aufgenommen hat, nimmt die Frau aus etwa fünf bis sechs Metern Entfernung von schräg hinten ins Visier. Er befindet sich auf leicht erhöhter Position auf einer Brücke oder einem Fahrzeug. Herr Paul, wir haben es bei der Aufnahme nicht mit einem Schnappschuss, sondern mit einem genau durchkomponierten Bild zu tun, das schon bald zu einer wahren Ikone des Vernichtungskrieges avancierte.

(HM): Wie kam es dazu?

(GP): Dieses Bild illustriert scheinbar eine Praxis des Zweiten Weltkrieges, die als typisch für den Vernichtungskrieg angesehen wurde. Gefangene Zivilpersonen, hauptsächlich Angehörige von Partizanen, jüdische Menschen in der Sowjetunion sind während des deutschen Vormarsches als sogenanntes Minensuchgerät 42, so hieß das tatsächlich, eingesetzt worden, um verminte von der Sowjetmacht oder von den Partisanen verminte Gegenden freizubekommen. Das heißt, es sind ja um den deutschen Vormarsch oder auch den Rückmarsch zu behindern, hat die Sowjetunion Millionen von Minen verlegt

(GP): und wenn deutsche Panzer und Formationen auf diese Minen gefahren sind oder gelaufen sind, dann flogen die in die Luft und dann hat es gleich nicht zwei oder drei sondern Hunderte von Toten gegeben. Um dem vorzubeugen, hat man jetzt sowjetische Menschen eingesetzt als Minenräumer, als lebendige Minenräumer, die der Wehrmacht vorausgegangen sind, die an langen Seilen, Becken oder Walzen nach sich gezogen haben, die mussten, das muss so schwer sei,n das war ja für Panzer ausgelegt nicht für Einzelperson und die dann ein Geländewagen frei bekommen haben, indem sie die Minen mit ihrem eigenen Körper in die Luft gesprengt haben.

(HM): Und diese Technik, war das eine Spezialität der Wehrmacht oder SS?

(HM): [(GP): Nein, die gab es auch auf russischer Seite, auf sowjetischer Seite und sie gab es auch nach dem Krieg und zu Kriegsende auf alliierter Seite bei Franzosen, bei den Dänen, sogar noch im Vietnamkrieg bei den Amerikanern, also das hat alles mit Kriegsrecht nichts mehr zu tun, dass es außerhalb des Kriegsrecht ist, dass Zivilperson eingesetzt werden, um Landschaften frei zu bekommen, also das war kein Spezifikum des NS Vernichtungskrieges. Als solches ist es aber zunächst interpretiert worden. Man kannte diese Praxis, man hatte aber keinen visuellen Beleg, also keine Fotografie von dieser Praxis und dann tauchte dieses Foto Ende der 80er Jahre oder Anfang der 90er Jahre im Zusammenhang mit der sogenannten Wehrmachtsausstellung auf, und es schien ein Beleg zu sein für diese Praxis. Ich habe es zunächst auch so gesehen, bis ich mir das Bild immer öfters und genauer angeschaut habe und dann festgestellt habe, dass es eigentlich kein Schnappschuss sein konnte, wie viele vermutet haben, als auch Kollegen vermutet haben. Dieses Bild ist ja aufgenommen so aus fünf bis sechs Metern Entfernung, aus leicht erhöhter Perspektive. Wahrscheinlich von einer Brücke hat ein Fotograf diese Frau exakt in den Bildmittelpunkt gerückt und hat abgedrückt. Wäre diese Frau auf eine Mine getreten, wäre die Mine erstmal wahrscheinlich gar nicht hoch gegangen. Weil sie nur mit schwerem Gerät in die Luft fliegt. Wäre diese Frau dennoch von einer Mine erwischt worden, wäre der Fotograf mit in die Luft geflogen. Er will sich nicht diesem Risiko ausgesetzt haben. Nun sieht man allerdings, die Frau durchzieht ja das Bild von links unten nach rechts oben, also aufsteigende Leserichtung, man sieht am rechten Ufer Reifenspuren von schwerem militärischen Gerät. Also, es muss bereits, bevor diese Frau durch den Fluss gewartet ist, ein militärisches Gerät durch diesen Fluss gefahren sein. Nur das kann diese Reifenspuren hinterlassen haben. Es ist kein Bild zu sehen von explodierten Militärgerät etc. Das heißt, der Fluss ist wahrscheinlich schon wieder frei gewesen, und der Fotograf hat sich vermutlich in Anführungszeichen nur einen Spaß mit dieser Frau gemacht. Diese Frau hat nicht gewusst, was ihr blühte. Sie musste damit rechnen, dass sie eine Mine auslöst.

(HM): Ich habe auch eine Vorstellung von Krieg gehabt, dass da ständig gekämpft worden ist. Das ist natürlich eine völlig falsche Vorstellung. Tagelang, wochenlang ist da mitunter gar nichts passiert, ist es Stillstand gewesen und diese Leute haben sich, mir fehlt das Verständnis dafür, aber ich muss das so interpretieren, haben sich einen Spaß daraus gemacht ihre Zeit totgeschlagen, damit mit solchen Fotografien. Populär geworden ist es, in großen Zeitungen abgedruckt worden ist es, findet sich auf einem Buch, das den Deutschen Buchpreis vor drei oder vor vier Jahren bekommen hat, und es findet sich hier in Berlin, in Berlin Karlshorst,  zudem auch da in der Abteilung Besatzungsherrschaft, glaube, heißt sie. Und damit wird noch mal die Bedeutung und auch die Legende dieses Bildes transportiert. Ich bin der Meinung, man muss es heute anders sehen. Es hat eine andere Bedeutung. Es ist nicht, deshalb nicht weniger problematisch und brutal, weil diese Frau natürlich Todesängste gehabt hat, und man hat mit dieser Todesangst gespielt. Aber man wird dieses Bild nicht mehr als Beispiel für die Minenprobe und für die Praxis in Anführungszeichen minensuchgerät 1942 interpretieren können.

(HM): Unser letztes Bild, über das wir sprechen, ist ein Standbild aus der vorletzten deutschen Kriegswochenschau vom 16. März 1945. Es zeigt den Flüchtlingstreck aus dem Osten. und damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema ihres Buches: wir sprechen darüber, wie NS-Propaganda bis heute unsere Erinnerungskultur prägt. Als ich das Bild gesehen habe, fiel mir natürlich wieder das ARD Doku Drama mit Maria Furtwängler, Die Flucht, ein. Und das war natürlich auch kein Zufall, wie sie in ihrem Buch schreiben. Denn das Standbild wurde fürs Fernsehen eins-zu-eins re inszeniert. Es vermittelt uns das Bild eines geordneten Auszugs aus dem Osten, heim ins Reich. Herr Professor Paul, was sehen wir auf dem Standbild?

(GP): Auf dem Standbild sehen wir also eine Momentaufnahme, einen Menschenfluss über eine Eislandschaft. Wir sehen ein Pferdefuhrwerk. Wir sehen im Vordergrund einen Mann mit einem Stock, die sich dem Betrachter, also dem Kameramann

Zuwenden, der auf einem, etwas erhöht, diese Aufnahme gemacht hat. Wahrscheinlich selbst auf einem dieser Wagen sich befand. Dieses Bild ist vielfach publiziert worden, findet sich in vielen Schulbüchern, ist aber wie gesagt ein Standbild aus einer Wochenschau über diesen riesigen Flüchtlingstreck über das Eis der zugefrorenen Ostsee, praktisch Richtung Pillau, von wo aus die Menschen hofften, mit Schiffen nach Westen zu kommen und der vorrückenden Roten Armee zu entfliehen. Es ist ein Propagandafilm, weil so wie in diesem Film ist die Realität nicht gewesen. In dem Gesamtfilm erscheint das Bild einer geordneten Fluchtbewegung. Fluchtbewegung ist schon falsch, einer geordneten Rückholbewegung von Deutschen, praktisch ins Innere des Reiches wird dargestellt. Dabei knüpft man an Bilder von Umsiedlungen an, aus den ersten Kriegsjahren, wo ja oft Deutsche umgesiedelt worden sind, heim ins Reich geholt worden sind etc. Positiv konnotierte Bilder. Tatsächlich aber wollte man damit suggerieren, die NSDAP, die Wehrmachtsführung, Hitler etc sind in der Lage, auch diese großen Fluchtbewegungen zu organisieren, dass sie nicht im absoluten Chaos enden. Die Realität hatte damit nichts zu tun, es war das Chaos. Diese Bilder hat es vielleicht gegeben, aber sie sind nicht repräsentativ für die Flucht. Repräsentativ ist, dass diese Flüchtlingstrecks angegriffen worden sind von der Roten Armee. Die deutsche Luftwaffe hatte längst nicht mehr die Lufthoheit. Die lag bereits bei der Roten Armee, bei den Flugzeugen der Roten Armee und diese Flüchtlingstrecks sind auch hier wieder gegen Konvention des Kriegsrechts angegriffen worden. Da hatte es schon gereicht manchmal, und man hat gar nicht auf die Flüchtlinge schießen müssen, man hat einfach das Eis aufsprengen müssen, und dann sind die mit ihren ganzen Trecks, mit Mann und Maus und Kleinkindern und Vieh praktisch im eiskalten Meer abgetaucht und ums Leben gekommen. Als Historiker haben wir lange Jahrzehnte, muss man sagen, die deutsche Wochenschau als ein, und damit sind wir wieder bei den  Anfangsstatements, als objektive Spiegelbilder historischer Realität gesehen. Also es gab in der ARD in den dritten Programmen über viele Jahre oder wahrscheinlich sogar über zwei Jahrzehnte eine Reihe: Der Krieg in der Wochenschau. Hat man unkommentiert Wochenschau Bilder des Dritten Reiches gesendet. Und ich war noch, das muss 2001/2002 auf einer Tagung im warburg-haus in Hamburg, dort hat ein renommierter deutscher Militärhistoriker Bilder der deutschen Wochenschau als eins zu eins Abbildung historischer Realität vorgeführt, ohne zu verstehen, was die propagandistischen Narrative sind in diesen Bildern. Das Furchtbare in Anführungszeichen, was jetzt passiert ist, das dann die ARD tatsächlich mit Expertise eines seriösen Kollegen diese Bilder der Wochenschau re-inszeniert hat und so getan hat, als ob die Fluchtbewegung so ausgesehen hat. Sie haben es nicht. Dafür gibt es unzählige Wortberichte, weniger Fotografie. Es gibt nur wenige Fotografien von diesem Chaos, das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb sich dieses Bild immer wieder reproduziert ja. Allerdings hätte man gesucht, es gibt ja Bilder auch bei den Archiven, bei den großen Agenturen, das Bildarchiv der Süddeutschen Zeitung, das andere Perspektiven zeigt, warum man diese Bilder nicht gefunden hat, warum man vielleicht gar nicht nach ihnen recherchiert hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Das weiß ich nicht. Fakt ist, dass die historische Wochenschau als Realität gesehen wurde und dass man sie dann reinszeniert hat. Und der Gipfel im Grunde ist dann ein Bericht, 2015 vermutlich, in der, in einer Zeitung des schleswig-holsteinischen Zeitungsverlags der Eckernförder Zeitung, wo Fluchtbewegung aus den Balkankriegen der jüngsten Vergangenheit verglichen worden sind mit den Fluchtbewegungen zu Ende des Krieges aus dem Osten ins Reich. Und dabei ein Standbild nicht aus der deutschen Wochenschau verwandt wurde, sondern aus der Kategorie re-enactment dieses ARD Mehrteilers also. Da muss man schon relativ blind sein.

(HM): Im Bildatlas da schreiben Sie, dass die visuelle Entnazifizierung gescheitert sei. Also das Bild des Flüchtlingstrecks ist ja nur ein Beispiel dafür. Wie hat sich denn die politische Bildsprache nach 45 dann weiterentwickelt?

(GP): Die Bilder der 50er Jahre sind im Grunde bis in die jüngste Gegenwart, ich würde sagen, bis Ende der 90er Jahre fast ungebrochen tradiert worden, also indem die Propagandaperspektiven der Fotografen und der Künstler ja übernommen worden sind. Wie gesagt, als 1 zu 1 Abbildung und erst die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat erstmals im, in einem breiten Maße diese Sichtweise gebrochen, indem sie nicht eben Propaganda oder Militärbilder in den Vordergrund gestellt hat, die bislang die Schulbücher und die Ausstellungen geprägt haben, sondern die Perspektiven der einfachen Soldaten teilweise auch der Opfer. Und diese sah völlig anders aus. Denn das ist ein dreckiger Krieg, ein schmutziger Krieg gewesen von Anfang an, der eben nicht so ordentlich und sauber daher kam, wie es in den 50er Jahren in den Publikationen zu sehen war.

(HM): Herr Professor Paul, was werden wir denn als nächstes von Ihnen zu lesen oder auch zu sehen bekommen?

(GP): Ja, zu lesen, zu hören und zu sehen vielleicht, ich hoffe, dass das im nächsten Jahr endlich auf dem Markt kommt. Ich habe zusammen mit einem Berliner Kollegen eine neue Gesamtdarstellung der NS-Zeit verfasst, die völlig neu daher kommt, weil es ein hybrides Buch sein wird. Wir werden auf der einen Seite ein ganz normal haptisches Buch haben, das man durchblättern kann, mit über 1000 Abbildungen. Das ist relativ einmalig. Und zusätzlich eben über eine App abrufbar etwa noch einmal 1000 Zitate, O-Ton Sequenzen, als Originalton-Sequenzen Film und Videosequenzen interaktiven Karten etc. Wo wir also das Dritte Reich auch als Mediendiktatur aus einer völlig neuen Perspektive betrachten. Und das Buch, das hoffe ich, soll nächstes Jahr im Frühjahr, also 2021 bei der Bundeszentrale für politische Bildung erscheinen.

(HM): Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, dass alles gut gelingt!

(GP): Das kann ich gebrauchen, Danke!

(GP): Music.

Über diesen Podcast

Ein Podcast für alle, die Lust haben, mit unseren klugen Gästen (noch) schlauer zu werden.

Wussten Sie eigentlich, dass das Wort „wissen“ vor sehr langer Zeit mit „ zz “ geschrieben wurde? Uns hat das spontan an „wizard“ (englisch für Zauberer) erinnert. Wäre das nicht schön, wenn Wissen verzaubern könnte? Nun, wir sind da ganz optimistisch und sprechen deshalb in „Alles, was Wissen schafft“ mit klugen Köpfen aus Schleswig-Holstein.

von und mit Landesvertretung Schleswig-Holstein, Heike Muß

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